Gestern und Morgen
von Andreas Falentin, Die deutsche Bühne
Wie kann man auf der Bühne Stellung beziehen zu den brennenden Problemen unserer Zeit, von denen es ja leider wirklich mehr als genug gibt? Wie kann man überzeugend Haltung zeigen und trotzdem im engeren Sinne Theater spielen, ein Publikum durch Spielfreude mitreißen? pulk fiktion ist in dieser Hinsicht jetzt imFreien Werkstatttheater Köln – in Koproduktion mit dem FFT Düsseldorf und dem Theater an der Ruhr – so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen, mit einer einstündigen Performance, die sich explizit an Menschen ab 10 Jahren widmet.
Dabei führt der Titel, „Der Schnee von Gestern“, zunächst in die Irre. Da erscheinen sofort schmelzende Gletscher und Polkappen vor dem geistigen Auge und man erwartet eigentlich ein politisches Plakat. Es sei denn, man hat genau gelesen: „Gestern“ ist großgeschrieben. Es geht also auch um die Vergangenheit, um Erinnerungen, um individuelle Lebenserfahrung.
Am Anfang stehen Katharina Bill und Norman Grotegut da, Gläser mit Pfefferminztee aus frischen Blättern in der Hand und sprechen sich mit „Katharina“ und „Norman“ an. Es entspinnt sich bemerkenswert zwanglos ein Gespräch über Lebenseinstellungen, über Umgang mit Erinnerungen und Veränderungen. Damit ist im engeren Sinne das Thema gesetzt. Dann reißt Katharina Bill den die Bühne verhüllenden hellen Stoff herunter, verschwindet darin und „spielt“ einen schmelzenden Eisberg. Das würde man in einer Sinfonie als Etablierung eines Seitenthemas beschreiben. Dieses wird immer wieder bedient in Hannah Biedermanns wunderbarer Inszenierung. Aber Klimawandel, Ökologie und Nachhaltigkeit bleiben Material, Spielvorlage, auch für die formidable Ausstattung von Ria Papadopoulou, deren Bühne im Lauf der Vorstellung immer mehr Tiefe bekommt, weil dreimal Hintergründe abgeräumt werden. Da wird mit weißem Konfetti eine Art Schneeballschlacht simuliert; da spielt ein lustig glitzerndes Fahrrad mit und es scheint so, als könne man durch die Trittfrequenz das Abspieltempo von Sound und Musik steuern. Überhaupt erscheint vieles handgemacht. Simon Brinkmann, Techniker und dritter Mitspieler, hüpft am Anfang eifrig von Lichtquelle zu Lichtquelle und steuert Farbwechsel manuell am Gerät.
Das alles klingt trocken, macht aber wahnsinnig viel Spaß. Weil die drei das so wunderbar machen. Wir sehen in keinem Moment Menschendarstellung auf der Bühne, aber in jedem Moment Menschen. Im entspannten Konversationston bringen sie präzise und sanft ironiefreudig unser aller Probleme auf den Punkt: Dass viele Menschen Veränderungen wollen, aber fast jeder andere; dass wir eigentlich alle Probleme haben mit Veränderungen in unserem Leben, die wir nicht selbst wollten und initiiert haben; dass es also ganz unwahrscheinlich ist, dass eine große, wenn nicht sogar globale Krise durch gemeinsamen Veränderungswillen gemeistert wird. Vielmehr gibt es, ausgelöst durch gefühlte Hilflosigkeit, immer mehr Sehnsucht nach Stillstand.
All das entwickeln Katharina Bill und Norman Grotegut aus – mutmaßlich – persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen sowie ein wenig Populärwissenschaft. Sie geben uns Einblick in Verarbeitungsprozesse und zeigen auch auf, wie Ausgrenzung unter Veränderungswilligen funktioniert. Da kann schnell zum Buhmann (zur Buhfrau) werden, wer nicht vegan leben will oder ungern Fahrrad fährt. Und dann kommt wieder ein witziges Bild oder ein melancholisch berührendes, aber doch saukomisches Lied. Und alles stimmt zusammen, versammelt und frei vorgetragen und dabei großartig absurd.
Das Ende ist dann doch dystopisch, oder kann zumindest so aufgefasst werden. Katharina und Norman kriechen auf einmal als eine Art Insekten gesichtslos über die Bühne und Simon stellt die Frage in den Raum: „Kann ein Wimpernschlag von dir Berge versetzen?“ Das Ende unserer Zivilisation als Ende? Als Befreiung? Als Neuanfang? Sollten wir drüber nachdenken. Die jungen Menschen zumindest, die bei der Premiere anwesend waren, wirkten hinterher sowohl fröhlich als auch nachdenklich. Kann Theater viel mehr erreichen?