„Denken ohne Geländer“ von pulk fiktion
Josephine Hepperle · 28.09.2020
„Im Vordergrund steht nicht unmittelbar die Lust an Hannah Arendts Theorie, sondern eine Idee davon zu kriegen, warum es einen Wert hat über die Genauigkeit von Dingen nachzudenken.“ – Hannah Biedermann/Schauspielerin
Im September 2020 wurde die Performance von Schauspielerin Hannah Biedermann und Techniker Peter Behle uraufgeführt. Regie führt Eva von Schweinitz. Mit „Denken ohne Geländer“ knüpft der skurril-inszenierende Theaterpulk an bisherige Produktionen an und lädt das Publikum zu einem Austausch über die Beziehung zwischen politischem Handeln und Denken ein. Das Künstler*innenkollektiv pulk fiktion streift mit der neuen Inszenierung über die Bühnen NRWs und bringt unsere Denkzentralen kräftig zum Qualmen.
Fragen über Fragen
Ab wann Denken wir politisch? Und was bedeutet eigentlich „Handeln“? Und in welchem Alter sind wir bereit, für unser Handeln Verantwortung zu tragen? Erst wenn wir vom Gesetz her volljährig sind, oder schon früher? Haben wir die Verantwortung mit dem Beginn unseres Lebens, uns für die Gesellschaft in der Politik einzusetzen? Was passiert, wenn ich mich enthalte und meine Meinung nicht öffentlich sage – Handle oder Denke ich dann nicht?
„Denken ist ein Gewinn. Es verändert mich über etwas nachzudenken.“ – Hannah Biedermann
All‘ diese Fragen schwirrten im Verlauf der Inszenierung durch meinen Kopf und noch so viele mehr nach der Veranstaltung. Frau Arendt soll ja bekannt sein für ihre leidenschaftliche Liebe zum Rauchen von Zigaretten und Zigarren – ich glaube, das war nur Tarnung. Denn durch ihr komplexes immer „um-die-Ecke-zu-denken“ kann es gar nicht anders kommen, als dass der Kopf und die Gedanken anfangen zu qualmen, bei so hitzigen und wichtigen Themen.
Verantwortungsvolles Handeln
Das Stück ist als fließender Dialog zwischen Inszenierenden und zunächst Zuschauenden gestaltet. Biedermann und Behle führen das Publikum durch die einzelnen Inhalte. Die Denkstrukturen von Arendt prüft das Duo zusammen mit den Teilnehmenden im gesamten Verlauf des Stücks. Das Stück verfolgt ein Ziel – das Publikum soll selber Handeln. Allgemein versteht Arendt Politik als freien Raum der in der Öffentlichkeit zur Handlung wird.
Wie wir die Welt begreifen, erleben und mitgestalten stellen das Duo und das Publikum in Frage. Wenn viele Menschen gemeinsam Handeln haben diese die Macht über Geschehnisse. Somit liegt es in der Verantwortung der einzelnen Person zu denken, um politische Teilhabe zu ergreifen.
Sehr komplexe Thematik. Biedermann und Behle bringen viel Schwung in die schwer zu begreifenden Denkweisen Arendts. Die Gestaltung ist ebenfalls nicht am Zahn der Zeit vorbei. Viele lustige Einwände werden technisch untermalt. Ob eine Twitter-Meldung von Arendt, ein sprechender Aschenbecher, eine rauchende und lichtverspielte Bühne oder eine hochmoderne Schreibmaschine – der Pulk hat sich viele interaktive und auflockernde Methoden einfallen lassen.
Proben als Herausforderung
Die Proben für die Inszenierung gestalteten sich als große Herausforderung. Zwar war der größte Teil des bunten Pulks in Köln und konnte zusammen Proben, aber die Regisseurin von Schweinitz befand sich zu Beginn der Proben in New York und konnte zunächst nicht, in Zeiten von Corona, den nächsten Flieger in Richtung Deutschland nehmen.
Doch das medienaffine Team von pulk fiktion ist stets kreativ. Es wurde viel ausprobiert, umgedreht, verworfen, alt-gedacht, neu-gedacht, Akkus von Menschen und Laptops aufgeladen und mit viel Liebe und Leidenschaft für das aktuelle Thema des Denkens ohne Geländer in digitalen und offline Räumen geprobt.
„Ich denke auch weiterhin, dass ich nicht nochmal freiwillig so proben würde. Denn Theater ist Gemeinschaftskunst. Dennoch gilt grundsätzlich als freischaffende Künstler*innen eine gewisse Flexibilität und einen gewissen Mut gegenüber neuen Herausforderungen zu haben.“ – Hannah Biedermann
Mit Mut und Flexibilität ist ebenso das Stück gekennzeichnet. Denn die Performerin Hannah Biedermann begibt sich in Interaktion mit dem Publikum. Der Austausch über die komplexen Ideen Arendts stehen im Vordergrund. Da die Zuschauenden mit jeder Aufführung wechseln und somit neue Ideen und Denkweisen zusammenkommen ist viel Flexibilität seitens Biedermann gefragt. Alle sind herzlich eingeladen in den Dialog zu gehen, kritische Einwände einzubringen und natürlich: zu Handeln.
Die Perspektive von Jugendlichen
Wichtig bei dem Herantasten an die Theorien und der Umsetzung des Stücks waren die Gespräche mit unterschiedlichen Jugendlichen. Das Kollektiv von pulk fiktion produziert Stücke für Jugendliche und junge Erwachsene und setzt sich damit als Ziel, die aktuelle Lebenswelt der jungen Menschen in die Stücke einzubinden. So wurden Meinungen eingeholt und Dialoge mit jungen Personen geführt, worüber sie sich aktuell politisch austauschen wollen.
„Wir haben die Empfehlung des Stückes ab 13 Jahren ausgesprochen. In den Interviews die wir geführt haben, sagten viele Jugendliche, dass sie zwar ihre Meinungen einbringen möchten, aber sie noch keine Macht haben das zu tun, weil sie nicht ernst genommen werden. Sie haben politisch keine Wirkungskraft, weil sie noch nicht wählen können.“ – Eva von Schweinitz/Regisseurin
Nicht einfach aber wichtig
Das Hinterfragen von gewohnten Denkstrukturen ist keineswegs einfach. Auch nicht unbedingt bequem. Doch es ist wichtig seine altbewährten Muster des Denkens und Handelns durch Gespräche mit vielen verschiedenen Menschen einer immer wiederkehrenden Probe zu unterziehen. Das neue Stück „Denken ohne Geländer“ von pulk fiktion regt zum Mitmachen und Nachdenken an. Die Performenden erschaffen eine entspannte Atmosphäre. Fehler dürfen und sollen gemacht werden. Denn nur wenn wir uns trauen bei allem nachzuhaken, was wir vielleicht noch nicht verstanden haben, können wir es schaffen Neues zu Lernen und nicht in unseren Strukturen gefangen bleiben.
Die Inszenierung hat mich persönlich sehr zum Denken angeregt. Vieles habe ich noch lange nicht gedanklich nachvollziehen können. Und das ist auch gut so. Denn dann werde ich weiter mitdenken, hinterfragen und dranbleiben und hoffentlich irgendwann Verstehen. Eva von Schweinitz und Hannah Biedermann ging es an vielen Stellen ähnlich. Ich wollte von Ihnen wissen, was sie bei all‘ den Unklarheiten gerne von Frau Arendt gewusst hätten.