Warum schneit es nicht mehr?
Von Dorothea Marcus
Was ist Ursache, was Wirkung, was bewusst bewirkt, was ohnehin geschehen? Wie kann gesellschaftliche Veränderung funktionieren? pulk fiktion fragen in ihrem Stück für Menschen ab zehn Jahren nach Eigenverantwortung und Handlungsspielräumen. Ein Gedankenspiel mit vielen biografischen Splittern.
Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Oder – ein abgeholzter Baum dafür sorgen, dass es in Mitteleuropa immer weniger schneit? Könnte sein. Niemand weiß es genau. Der Mensch ist unfähig, die langfristigen Auswirkungen seines Handelns zu erkennen.
Katharina Bill und Norman Grotegut stehen vor einem zerknautschten weißen Vorhang im Freien Werkstatt Theater, der den letzten Schnee symbolisieren könnte, und trinken Pfefferminztee. Manchmal reicht es vielleicht auch, abzuwarten und Tee zu trinken – irgendwann werden die Zuschauer schon still. Oder war es doch das Saallicht, das auf einmal ausging? Was ist Ursache, was Wirkung, was bewusst bewirkt, was ohnehin geschehen? Und wie ist politisches Handeln möglich – oder ist es immer schon sinnlos? Simon Brinkmann, der Techniker, blendet zur Erklärung des Theatervorgangs ein paar ironisch überpädagogische Overheadfolien auf den Vorhang: Das sind Katharina und Norman, die Tee trinken. Nur um sie geht es. Und um die Frage, was sie – wir – tun können, um etwas zu verändern.
Welche Entwicklungsräume gibt es überhaupt, was bestimmen andere, was man selbst? Nicht ganz unwichtige Fragen für das Alter der Zuschauerzielgruppe ab zehn Jahren. Katharina und Norman beginnen nun ein heiteres Fragespiel um Erinnerung und Zukunft. Was hättest du als Kind lieber nicht gewusst? Was hast du weggegeben und bereut? Was dagegen losgeworden und freust dich darüber? Erst geht es um Senfeier, dann ans Eingemachte: Bei Katharina ist es die Spielsucht ihres Vaters, Norman hätte im Rückblick doch lieber weniger Fußball gespielt, „aber ich dachte ich muss es tun, weil ich ein Junge bin“.
Katharina wiederum hasst Fahrradfahren – und hat gerade beschlossen, nie wieder zu denken, dass sie abnehmen müsste: „Ich freue mich auf die nächsten 40 Jahre“. Stärkende, zugängliche, authentisch wirkende Identifikationsflächen bilden die beiden. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine bunt beleuchtete Landschaft: ein Eisberg aus Papier, ein illuminiertes Fahrrad. Was bleibt von einer Kindheit, was kommt dazu, was hat man in der Hand? Audio-Interviews mit Jugendlichen werden eingeblendet, rührend ernst und reflektiert: „Die Vergangenheit ist mir sehr wichtig“, sagt da einer, oder „Immerzu verändert sich das Leben, weil ständig neue Leute geboren werden“. Auf der Bühne tauschen Norman und Katharina indes die Rollen, zieht sich Norman flauschige Stulpen an, wird zum dicken Mädchen Katharina, das Ballett so sehr liebte, aber immer ganz hinten an der Stange stehen musste – und stets von Außenblicken markiert war.
Manchmal geht es eben nicht um eine Veränderung der Umstände, sondern um eine des Blickwinkels. Und auf der Bühne der Gegenwart wird ohnehin alles überwunden, Pliés, Battements und Allongés reichern sich mit Fantasiefiguren an namens Fondue, Croissant und Tour de France – und schließlich tanzen, schweben, trudeln, drehen die beiden im Techno-Ballett über die Bühne, wilde Fohlen der Formfreiheit. Welchen Kindertraum haben sie sich eigentlich nicht erfüllt? Viele existentielle Fragen und gekonnt performte Bruchstücke prallen hier wie im dadaistischen Kabarett aufeinander, manchmal aber auch zu viele. Irgendwann ist nicht mehr so richtig klar, was hier eigentlich erzählt werden soll. Mal geht es um pubertären Trotz und Widerstand, Medienzeit, Verbote und ihre lustvolle Übertretung – dann wieder um die ganz große Protestbewegung und Weltrettung, Flugscham und FFF-Demos – und ihre gefühlte Vergeblichkeit. Irgendwann sagt Katharina trotzig, warum sie das Fahrrad nicht mag: „Ich will nicht aussehen, als wüsste ich, was richtig oder falsch ist“. Sicher ein guter Plan in moralisch und meinungswütig aufgeheizten Zeiten. Aber bestimmte menschliche Leitlinien können ja wiederum auch nicht ignoriert werden.
Irgendwann ist aber doch Zeit für eine echte Schneeballschlacht, rieseln Daunenfeder wie Schneegestöber, weinen die beiden lustige weiße Schneetränen. Zum Schluss taucht die Frage vom Anfang nach dem unvorhersehbaren Schmetterlingseffekt wieder auf, verwandeln sich Katharina und Norman mit gelben und braunen Luftballons und Strümpfen in riesige Raupen, transformierte Wunderwesen, die das Anthropozän, diese fehlerhafte und willenlose Spezies Mensch, längst hinter sich gelassen haben – Black.
Etwas zu plötzlich endet der Abend, etwas zu zerfasert durchpflügt er seine großen philosophischen Grundthemen, etwas zu souverän werden hier die bewährten Performance-Bausteine von pulk fiktion aneinander geheftet. Und agieren sie mit ihren Fragen nach Vergangenheit und lang zurückliegender Erinnerung nicht doch etwas an der Zielgruppe vorbei? pulk fiktion, die zuletzt unter anderem in ihrer tollen Arbeit „Robin and the Hoods“ Kinder so meisterhaft in die tiefen Abgründe der gestellten Fragen hineinzogen, agieren diesmal seltsam über ihre Köpfe hinweg.